Samstag, 1. Dezember 2012

Die kleinen Vergesslichkeiten

Niemand kann sich alles merken. Der Eine hat eher eine Schwäche bei Zahlen, der Nächste bei Automarken, wieder ein Anderer vergisst Geburtstage und noch Einer vergisst in der Alltagshektik Kleinigkeiten, in dem er z. B. in Hausschuhen die Wohnung verlässt.
Ich vergesse nicht nur Namen, sondern auch Gesichter. Also gleich die ganze Person. Ich plädiere im Alltag immer wieder für Namensschildchen, dennoch müsste ich es eigentlich besser wissen. Das blöde Schildchen würde mir nicht helfen, denn das Gesicht hätte ich ohnehin noch nie gesehen, dessen bin ich mir sicher.

Nun hat das Gehirn meistens ja nur einen Bruchteil, um sich in dem Moment des Kennenlernes gleich das Aussehen aufgrund bestimmter Merkmale sowie den kurz eingeworfenen Namen einzuprägen. Offensichtlich klappen meine Synapsen in dem Moment zusammen und mein Gehirn pfeift ein hohes C, denn sobald sich der neu vorgestellte Mensch umdreht, ist er auch schon aus meinem Gedächtnis verschwunden.
Wenn wir uns ein paar Tage später wieder begegnen, stelle ich mich höflich erneut vor. Sein verwunderter Blick verrät mir... wir kennen uns schon. Schnell lächeln, entschuldigen, weiterreden. Daraus ergibt sich das Problem. Ich weiß immer noch nicht, wie er heißt, der neue Mensch. Ich weiß, dass ich ihn nun zumindest erkenne, aber nicht anreden kann. Unglücklicherweise verschluckt das Gespräch den Zeitpunkt, in dem ich - mit schuldiger Miene - nach seinem Name hätte fragen können. Und dann kennt man sich schon fast zu gut, um nach dem Namen zu fragen. In sämtlichen Situationen versuche ich, Blicke auf persönliche Dinge zu erhaschen, auf denen der Name stehen könnte. Vergebens.

Nach einer Weile bekommt er einen Phantasie-Namen, der zu demjenigen am besten passt. Das ist kein Witz, ein humorvoller Bekannter hat einen Phantasie-Namen, mit dem ich ihn anreden kann, falls mir kurzfristig wieder einmal sein Name entfällt.

Tipps besagen, man soll direkt nach der Vorstellung den Namen wiederholen. In etwa: "Es freut mich, dich/Sie kennen zu lernen, (Herr) X!"
Auch das habe ich versucht, denn ich möchte mich ja gern an den Namen erinnern. Es kann nie schaden, den Namen des neuen Freundes oder Feindes im Kopf zu haben. Zu meinem Bedauern bin ich in der Situation des Kennenlernens damit überfordert zuzuhören, da ich meistens damit beschäftigt bin, meine Vorstellung vorzubereiten und möglichst freundlich rüber zu bringen, wie ich in meinem Text über selbige ja bereits geschrieben habe. So kriege ich nur einen Bruchteil mit und spreche den Namen entweder dreimal falsch aus oder komme nur zum Anfangsbuchstaben und schon gerät alles aus den Fugen. Der freundliche erste Eindruck ist dahin.

Um mich vor solchen Situation zu schützen, grüße ich nun mein Umfeld freundlich, sofern mich jemand länger als eine Sekunde anschaut. Auch das hat verwirrte Blicke zur Folge und ich bin mir sicher, dass der eben von mir Gegrüßte drei Tage überlegt, wer ich bin und warum ich so höflich gegrüßt habe. Wer von mir also grundlos gegrüßt wird: es handelt sich hier um reinen Selbstschutz.

Gesichter sind für mich Schall und Rauch. Ich sehe viele davon und dann verschwinden sie hinter den Horizont meines Kurzzeitgedächtnisses. Auch wenn ich jemanden viermal gesehen habe, heißt das nicht, dass ich ihn auf offener Straße wiedererkenne. Der Jemand mich offensichtlich schon. Und ganz offensichtlich haben wir uns öfter gesehen, denn er kommt auf mich zu. Mein Puls rast. Er wird doch wohl nicht?! Doch, er wird. Und schon geht der Mund auf, heraus kommt eine herzliche Begrüßung, die Nachfrage, wie es mir geht und was die Arbeit macht. Mit der größten Mühe, meine Verwunderung zu unterdrücken, antworte ich gewissenhaft auf alle Fragen, erkundige mich ebenfalls nach dem Wohlbefinden. Die Fragen werden detaillierter, er weiß eine Menge über mein Privatleben. Ich stocke, überlege zwanghaft, wer er ist, was er macht, woher wir uns kennen. Das zerstört das ganze Gespräch, denn es macht mich gerade wahnsinnig, nicht zu wissen, woher ich mein Gegenüber kennen sollte. Mein Gesprächspartner murmelt etwas von "keine Zeit mehr" und geht. Es kostet mich drei schlaflose Nächte, in denen ich alle Szenarien durchspiele, wo er arbeiten könnte, woher ich ihn kennen könnte. Ich würde mir gerne vornehmen, ihn beim nächsten Mal mit einem entschuldigenden Blick nach dem Namen zu fragen, doch mir ist bewusst, wie albern die Situation sein muss. Schließlich scheinen wir uns ja besser zu kennen oder zumindest oft genug gesehen zu haben, um einiges übereinander zu wissen.

Im besten Fall fällt mir nach einer Woche in völliger Alltagshektik in dem Bruchteil einer Sekunde ein, wer er war. Doch schon schiebt eine neu aufgenommene Information die Identität desjenigen wieder weg und mein Geistesblitz erlischt.

Aber nachts, wenn ich Zeit zum Grübeln habe, stelle ich mir vor, wie er mir seinen Namen verrät und dieser - wie in einem Sci-Fi-Film - in Neonschrift in mein Blickfeld gebrannt ist. Beim nächsten Treffen erscheint ein Fadenkreuz auf dem Gesicht der "Zielperson", mit Namen, Arbeitsplatz, Familienstand und sonstigen wichtigen Daten.

Ich schlafe lächelnd ein und hoffe, dass es bald eine App für sowas gibt.

2 Kommentare:

  1. Endlich mal wieder ein lesenswerter Blog :) direkt mal abonniert.

    Mir geht es ähnlich, kenne aber die Ursache. Die Ursache wächst in Holland und ist hier nicht erlaubt. :)

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  2. Das kommt mir wieder mal sehr bekannt vor... der Text ist ein Blogtausch-Kandidat!

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